Cover des Wegweisers Tierversuchsfreie Wissenschaft

Wegweiser Tierversuchsfreie WissenschaftInterview - Thomas Hartung

Für unsere Publikation Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft haben wir mit Prof. Dr. Dr. Thomas Hartung über tierversuchsfreie Methoden in der Toxikologie, insbesondere im Bezug auf die Sicherheitsprüfung von Arzneimitteln, gesprochen. 

Prof. Dr. Dr. Thomas Hartung

Dr. Thomas Hartung ist Professor für Pharmakologie und Toxikologie an der Universität Konstanz, seit 2009 Direktor des Center for Alternatives to Animal Testing (CAAT) und Inhaber des Doerenkamp-Zbinden-Lehrstuhls für evidenzbasierte Toxikologie an der Johns Hopkins School of Public Health. Vor seiner Zeit am CAAT leitete er das Europäische Zentrum für Alternativmethoden (ECVAM).

Herr Prof. Dr. Dr. Hartung, was hat Sie dazu motiviert, im Bereich der tierversuchsfreien Methoden tätig zu sein?  

Prof. Thomas Hartung: Meine Motivation für tierversuchsfreie Methoden liegt zuerst mal in der Überzeugung, dass wir als Wissenschaftler eine ethische Verpflichtung haben, den Einsatz von Tieren in der Forschung zu minimieren. Aber dies ist nicht nur eine Frage des Tierschutzes, sondern auch der wissenschaftlichen Genauigkeit und Relevanz: Viele tierversuchsfreie Methoden bieten präzisere und meschlichere Alternativen, die oft bessere Vorhersagen für menschliche Reaktionen ermöglichen. Je länger ich in dem Bereich aktiv bin, desto mehr wurde mir aber auch klar, dass es eine Menge wirtschaftliche Gründe gibt, Tierversuche zu ersetzen: Die Methoden brauchen zu lang, kosten zu viel und führen oft zu falschen Entscheidungen. 

Warum handelt es sich bei der Entwicklung und Validierung des MAT um eine bedeutsame tierversuchsfreie Methode in der Toxikologie? Wie weit ist die Akzeptanz dieser Methode derzeit fortgeschritten? 

Prof. Thomas Hartung: Der Monozyten Aktivierung Test (MAT) ist eine bedeutende tierversuchsfreie Methode, weil er im Augenblick eine Menge Tiere ersetzt. In den letzten zwanzig Jahren ist der Kaninchen-Pyrogentest in Europa von 170,000 Tieren auf jetzt 20,000 pro Jahr zurück gegangen und in zwei Jahren ist ganz damit Schluss. Das ist eine Menge Tiere: 150,000 Tiere ist ziemlich genau, was Europa pro Jahr für alle rund dreißig Tierversuche für Pestizide verbraucht. Ich bin stolz, dass ich einen der MATs erfunden habe und alle zusammen durch die Internationale Validierung gebracht habe. Die Validierung und Implementierung des MAT hat gezeigt, dass er eine zuverlässige und humane Alternative zu Tierversuchen darstellt. Der Test ist auch wichtig, weil er auf menschlichen Immunzellen basiert und bewiesen hat, dass damit relevantere Informationen für den Menschen geliefert werden. In vielen Aspekten ist er wissenschaftlich besser und viel günstiger als der Tierversuch. Die Akzeptanz des MAT ist bereits weit fortgeschritten, besonders in der Pharmaindustrie und bei regulatorischen Behörden, die seine Vorteile erkannt haben. 

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Könnten Sie uns Beispiele für erfolgreiche Testmethoden aus Ihren aktuellen Forschungsprojekten nennen, die dazu beigetragen haben, Tierversuche zu ersetzen? 

Prof. Thomas Hartung: Ein Beispiel aus meinen aktuellen Forschungsprojekten ist die Entwicklung von Mikrophysiologischen Systemen, auch bekannt als "Organs-on-Chips". Diese Systeme simulieren menschliche Organe und ermöglichen es, toxikologische Tests durchzuführen, die die menschliche Physiologie genauer nachbilden als Tierversuche. Wir selbst haben vor allem zur Massenproduktion von Hirn-Organoiden beigetragen. Solche Modelle werden vor allem in der Medikamenten-Entwicklung eingesetzt. Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit im Bereich der „in-silico-“ Computermethoden, bei denen KI-gestützte Modelle zur Vorhersage toxikologischer Effekte eingesetzt werden. Australien hat bereits eine unserer Methoden für die Chemikalientestung anerkannt. Die Methoden zeigen gerade großes Potenzial für Grüne Chemie, also die frühe Vermeidung von Problemchemikalien in der Produktentwicklung. Aber wir sind da noch ganz am Anfang der Möglichkeiten. 

Auf welches Projekt blicken Sie mit besonders viel Begeisterung und Stolz? 

Prof. Thomas Hartung: Das ist so eine Frage wie, welches Deiner Kinder hast Du am liebsten? Da ist das Leberentzündungsmodell aus meiner Doktorarbeit oder der Pyrogentest. Da sind rund dreißig Methoden für die wir in ECVAM, der Europäischen Validierungsstelle, die ich 2002-2008 geleitet habe, die Validierung gestartet haben. Besonders stolz bin ich auf unsere Hirn-Organoide und dass wir im Moment zeigen, dass sie lernen können – wir nennen das Organoid Intelligenz (OI). Die World Summits zu solchen Mikrophysiologischen Systemen sind ein toller Erfolg – wir organisieren gerade den dritten in Seattle nach Berlin letztes Jahr. Mein Human Toxome Project, das als transformative Forschungsinitiative von den National Institutes of Health (NIH) gefördert wurde, hat geholfen Mechanismen toxischer Wirkungen auf molekularer Ebene in den Mittelpunkt zu bringen. Unsere Evidenz-basierte Toxikologie ändert zunehmend, wie Behörden mit Daten umgehen. Unsere Arbeit zur Künstlichen Intelligenz ist ganz weit vorne und was wir gerade in Richtung von einem Humanem Exposome Projekt machen, kann wirklich rocken. Ich denke, ich bin stolz auf alles zusammen, weil alles zusammen Grundlage für eine neue Generation von tierversuchsfreien Testmethoden schafft, vielleicht sogar eine andere Art von Forschung in den Lebenswissenschaften. 

Wie sehen Sie die derzeitige finanzielle Förderung der Forschung zu tierversuchsfreien Methoden? Gibt es Ihrer Meinung nach bestimmte Gründe, weshalb diese im Vergleich zu Tierversuchen nur unzureichend gefördert werden? 

Prof. Thomas Hartung: Man kann das Glas als halb voll oder halb leer sehen. Die finanzielle Förderung der Forschung zu tierversuchsfreien Methoden hat in den letzten Jahren zugenommen. Beispiele sind das 400-Millionen-Euro Projekt PARC in Europa oder ein neues gerade gestartetes NIH-Programm von ähnlicher Größe in den USA. Trotzdem ist das wenig im Vergleich zu dem, was dieselben Institutionen gleichzeitig für Tierversuche ausgeben. Wenn man Wandel möchte, muss man das ändern. Ein Grund dafür sind die langjährige Tradition und das etablierte System der Tierversuche, das tief in der wissenschaftlichen und regulatorischen Praxis verankert ist. Wir müssen immer noch viel Arbeit leisten, den Kollegen klarzumachen, wie viele Schwachstellen ihre Methoden haben und dass es bessere gibt.  Es bedarf eines kulturellen Wandels und weiterer politischer Unterstützung, um die Finanzierung tierversuchsfreier Methoden zu erhöhen. 

Welche Herausforderungen sehen Sie bei der breiten Akzeptanz und Umsetzung tierversuchsfreier Testmethoden in der Toxikologie auf regulatorischer Ebene? 

Prof. Thomas Hartung: Das Wichtigste ist Change-Management. Wir spielen zu oft Beamten-Mikado – wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Eine der größten Herausforderungen ist die Validierung und Anerkennung dieser Methoden durch regulatorische Behörden. Wir wissen zwar mittlerweile, wie man validiert, aber das dauert zu lange und ist zu teuer. Zudem erfordert die Implementierung neuer Methoden umfassende Schulungen und Änderungen in den bestehenden Vorschriften. Wenn mir jemand als jungem Postdoc gesagt hätte, dass meine Arbeit am Pyrogentest nach dreißig Jahren Erfolg haben wird, hätte ich vermutlich etwas anderes angefangen. Es ist wichtig, den Dialog zwischen Wissenschaftlern, Regulierungsbehörden und der Industrie zu fördern, um diese Herausforderungen zu überwinden. Das ist genau was wir in CAAT, unseren Zentren für Ersatzmethoden zu Tierversuchen in Konstanz für Europa und in Baltimore für die USA, erreichen wollen. 

Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach die Rolle der Gesetzgebung für die Weiterentwicklung von tierversuchsfreien Methoden allgemein? Gibt es Verbesserungspotenzial in Deutschland und wo sehen Sie (politisch) den größten Handlungsbedarf? 

Prof. Thomas Hartung: Die Gesetzgebung spielt eine entscheidende Rolle bei der Förderung tierversuchsfreier Methoden. Strengere Vorschriften und Anreize für die Entwicklung und Anwendung dieser Methoden können den Fortschritt erheblich beschleunigen. Die Politik muss den Behörden klarmachen, dass sie Alternativen wollen. Dem folgt die Industrie und das gibt dann einen Markt für Biotechfirmen, die die Methoden anwendungsreif machen. Es ist immer leicht stärkere finanzielle Unterstützung zu fordern. Sicher, die Wissenschaft folgt dem angebotenen Geld. Vor allem aber müssen wir das Bewusstsein ändern – Tierversuche werden von den meisten Wissenschaftlern total überbewertet. Genauso wichtig ist aber die Schaffung klarer Richtlinien für die Anerkennung und Implementierung tierversuchsfreier Alternativen. Politisch besteht der größte Handlungsbedarf in der Förderung einer forschungsfreundlichen Umgebung, die Innovationen in diesem Bereich unterstützt. 

Gibt es ein bestimmtes Land, das Sie für die Etablierung und Erforschung von tierversuchsfreien Methoden als Vorbild sehen würden? Was läuft dort im Vergleich zu Deutschland besser? 

Prof. Thomas Hartung: Die Niederlande sind ein Beispiel für ein Land, das sich stark für die Förderung tierversuchsfreier Methoden einsetzt. In Utrecht wird gerade ein Biotechnologie-Park für Ersatzmethoden mit 125 Millionen Euro gefördert. Sie haben ehrgeizige Ziele zur Reduzierung von Tierversuchen und investieren erheblich in die Forschung und Entwicklung alternativer Methoden. Im Vergleich zu Deutschland gibt es in den Niederlanden eine stärkere staatliche Unterstützung und klare politische Vorgaben, die den Übergang zu tierversuchsfreien Methoden vorantreiben. Ich bin an einem größeren sozialwissenschaftlichen Projekt an der Radboud University beteiligt, dass untersucht, warum wir nur so langsam mit dem Wechsel zu alternativen Methoden vorankommen. Sowas ist wirklich innovativ und davon brauchen wir mehr. 

Inwiefern kann die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler*innen, Regulierungsbehörden und Industrie dazu beitragen, sichere und ethischere Toxikologiebewertungen zu fördern? 

Prof. Thomas Hartung: Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Regulierungsbehörden und der Industrie ist entscheidend, um die Entwicklung und Implementierung sicherer und ethischer Sicherheitsbewertungen zu fördern. Durch den Austausch von Wissen und Ressourcen können gemeinsame Standards entwickelt und innovative Methoden schneller validiert und akzeptiert werden. Diese Zusammenarbeit ermöglicht es auch, die Bedürfnisse und Anforderungen aller Beteiligten besser zu verstehen und in die Entwicklung neuer Methoden einzubeziehen. Bei aller Liebe zu Alternativmethoden – wir brauchen sichere Produkte. Ich glaube aber fest, dass die Wissenschaft auf unserer Seite ist. Mit Evidenz-basierten Methoden können wir das auch immer mehr zeigen.   

Was ist Ihr nächstes Ziel? Welche Projekte planen Sie als nächstes? 

Prof. Thomas Hartung: Mein nächstes Ziel ist es, die Forschung an Mikrophysiologischen Systemen weiter voranzutreiben und ihre Anwendung in der Toxikologie zu erweitern. Ein weiteres wichtiges Projekt ist die Weiterentwicklung von in-silico-Methoden, um die Vorhersagekraft und Zuverlässigkeit dieser Modelle zu verbessern. Diese sind was wir in den USA als Disruptive Technologies bezeichnen, Methoden, die ein Feld von Grund auf ändern können. Wir müssen aber noch zeigen, wie wir sowas validieren und in die Nutzung führen.  

Zudem plane ich, den internationalen Dialog und die Kooperation im Bereich der tierversuchsfreien Methoden zu intensivieren, um globale Standards zu etablieren und den Fortschritt in diesem Bereich zu beschleunigen. Unsere große Vision ist ein Humanes Exposome Projekt – als Gegenstück zum Humanen Genome Projekt. Wir wollen weg von Toxikologie als der Kunst, Ratten zu vergiften, zu einem Verständnis was Chemikalien mit Krankheiten zu tun haben. Die erste Konferenz in Washington ist schon für nächstes Jahr im Mai geplant. 

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