Cover des Wegweisers Tierversuchsfreie Wissenschaft

Wegweiser Tierversuchsfreie WissenschaftInterview - Henrik Renner

Für unsere Publikation Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft haben wir mit Dr. Henrik Renner über die Nutzung von Organoiden zur Hirnforschung, auch in Bezug auf die Erforschung der Parkinson-Erkrankung, gesprochen.

Dr. Henrik Renner

Dr. Henrik Renner arbeitet als Wissenschaftler im Bereich Neurowissenschaften bei der Hamburger Biotechnologie-Firma Evotec. Er hat seinen Master in Biomedizin am Karolinska Institute in Stockholm, Schweden, absolviert und am Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster promoviert. Eine aus seiner Arbeit dort hervorgegangene Methode wurde 2021 mit dem Tierschutzforschungspreis des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) ausgezeichnet.

Herr Dr. Renner, können Sie unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über Ihre Forschung geben? 

Dr. Henrik Renner: Während meiner Promotion am Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster war ich Teil eines Teams, das ein Verfahren zur automatisierten Herstellung und Analyse dreidimensionaler Nervengewebe entwickelt hat. Diese Arbeit ermöglichte es uns, wichtige Aspekte des menschlichen Gehirns nachzubilden, insbesondere durch die Entwicklung von Mittelhirn-Organoiden. Diese Organoide sind faszinierende Modelle, die komplexe dreidimensionale Gewebestrukturen aus menschlichen induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) generieren. Während meiner Zeit am Institut konnte ich hautnah miterleben, wie diese Zellen sich zu verschiedenen neuronalen Zelltypen differenzieren und schließlich Strukturen entwickeln, die denen bestimmter Gehirnregionen ähneln. 

Inzwischen arbeite ich bei Evotec in Hamburg, wo wir ähnlich innovative Ansätze verfolgen, um das Verständnis von Krankheiten zu vertiefen und wirksamere sowie sicherere Medikamente für Patient*innen zu entwickeln. Der Fokus des Teams liegt auf der Entwicklung komplexer zellulärer Modelle, die die menschliche Physiologie von Geweben und Organen möglichst realitätsgetreu abbilden. Besonders dabei sind unsere Bemühungen um die Weiterentwicklung dreidimensionaler Zellkultursysteme. Diese Modelle dienen nicht nur dazu, unser Verständnis von menschlichen Krankheiten zu erweitern, sondern unterstützen auch bei der Identifizierung neuartiger Therapeutika und helfen dabei, die Reaktion des menschlichen Körpers auf potenzielle Wirkstoffkandidaten genauer vorherzusagen. 

Auf welches Projekt blicken Sie mit besonders viel Begeisterung und Stolz? 

Dr. Henrik Renner: Mit besonderer Begeisterung und Stolz blicke ich auf unsere fortschrittliche iPSC-Plattform bei Evotec, die bereits zahlreiche Fortschritte in der Arzneimittelforschung ermöglicht hat. Über die Jahre haben wir hart daran gearbeitet, eine robuste und vielseitige Infrastruktur aufzubauen, die es uns ermöglicht, Krankheitsmodelle in Zellkulturen zu erstellen und Wirkstoff-Screenings durchzuführen. Diese Plattform eröffnet uns einzigartige Möglichkeiten, um die Ursachen von Krankheiten besser zu verstehen und gezielter nach wirksamen Lösungen zu suchen.  

Unser Wegweiser zum Download

Welche aktuellen Entwicklungen im Bereich der Organoid-Modelle halten Sie für besonders vielversprechend? 

Dr. Henrik Renner: Eine besonders vielversprechende und auch spannende Entwicklung im Bereich der Organoid-Modelle sind die sogenannten “Assembloids”, bei denen verschiedene relevante Organoidtypen kombiniert werden, um komplexere Systeme zu schaffen. Dieser innovative Ansatz eröffnet völlig neue Perspektiven, um die interaktiven Prozesse zwischen verschiedenen Gewebetypen zu erforschen und die Funktionen komplexer Organsysteme realitätsnaher zu modellieren. Es ist faszinierend zu beobachten, wie diese Assembloids uns dabei helfen, die Komplexität des menschlichen Körpers besser zu verstehen. 

Auch zeigt sich großes Potenzial in der Vaskularisierung von Organoiden sowie der Integration spezifischer Zelltypen wie beispielsweise Mikroglia, Immunzellen des zentralen Nervensystems, in Hirn-Organoide. Durch die Einbindung von Blutgefäßen und zellulären Komponenten können wir die Mikroumgebung der Organoiden noch realistischer gestalten und unsere Modelle menschlicher Gewebe physiologischer und relevanter werden. Das ist ein Schritt hin zu einer noch präziseren Nachbildung der menschlichen Physiologie in der Petrischale. 

Vor welchen großen Herausforderungen steht die Forschung im Bereich der Organoid-Modelle und wie gehen Wissenschaftler*innen diese an? 

Dr. Henrik Renner: Die Forschung im Bereich der Organoid-Modelle steht vor mehreren Herausforderungen. Doch meiner Ansicht nach ist die größte Herausforderung, insbesondere für die Anwendung in der Medikamentenentwicklung, die Reproduzierbarkeit und Standardisierung. 

Wissenschaftler*innen gehen diese Herausforderung auf verschiedene Weisen an. Ein zentraler Ansatz, der in meiner Arbeit eine Rolle spielte, ist die Automation von Prozessen mithilfe robotischer Systeme. Diese Automation ermöglicht eine präzise Kontrolle über die Herstellung und Analyse der Organoiden, was wiederum die Reproduzierbarkeit und Standardisierung verbessert. Darüber hinaus entwickeln wir kontinuierlich neue Methoden und Technologien, um die Funktionalität und Relevanz von Organoid-Modellen weiter zu optimieren und die Nutzung von Organoiden in der Medikamentenentwicklung voranzutreiben. 

Können Sie Ihre Forschungsergebnisse nutzen, um die Entwicklung von Medikamenten und Therapien zu beschleunigen, und wenn ja, wie? 

Dr. Henrik Renner: Zwei Hauptziele meiner Arbeit waren die Standardisierung und Automation der Herstellung und Analyse von Mittelhirn-Organoiden. Beides ist eine wichtige Grundlage, um Organoid-Modelle zur Entwicklung von Medikamenten und Therapien einzusetzen. Nur anhand robuster Modelle können relevante Daten generiert werden, die es uns ermöglichen, die molekularen Grundlagen von Erkrankungen besser zu verstehen. Die Entdeckung und Entwicklung neuer Medikamente erfolgt außerdem häufig mittels Hochdurchsatz-„Screening“ vieler verschiedener Testsubstanzen. Dieser Prozess funktioniert nur automatisiert und mit hoch reproduzierbaren Modellen. 

Welche Vorteile hat es, tierversuchsfreie Forschungsmethoden im Bereich der Parkinson-Forschung einzusetzen?  

Dr. Henrik Renner: Versuche im Tiermodell sind für jedes neue Medikament vorgeschrieben, bevor es einem Menschen verabreicht werden darf. Das dient der Sicherheit der Proband*innen klinischer Studien, bei denen es sich ja zunächst häufig um gesunde Menschen handelt, die sich freiwillig die Prüfsubstanz verabreichen lassen. Dennoch weisen Tiermodelle auf genetischer und molekularer Ebene Unterschiede zum Menschen auf, was die Übertragbarkeit von präklinischen Ergebnissen in den klinischen Kontext erschwert. Die Erforschung und frühe Entwicklung von Prüfsubstanzen in einem menschlichen Zellmodell bietet Chancen für ein besseres Verständnis der Krankheitsursachen und –mechanismen und damit auch eine erhöhte Erfolgswahrscheinlichkeit für die weitere Entwicklung. 

Parkinson, eine Erkrankung, die bei Tieren nicht natürlicherweise vorkommt, erfordert eine künstliche Modellierung. Auch wenn diese Modelle einige Einblicke in die Krankheitsursachen bieten, bleiben präventive oder kurative Therapien schwer fassbar. Hier kommen unsere iPSC-abgeleiteten Parkinson-Modelle ins Spiel, die uns erlauben, Experimente direkt an menschlichen Zellen durchzuführen. Organoid-Modelle ergänzen dies, indem sie uns ermöglichen, funktionale Interaktionen auf einer Ebene spezifisch für Organe zu untersuchen, was unsere Fähigkeit verbessert, Parkinson zu verstehen und Behandlungen zu entwickeln. 

Diese Methoden bieten nicht nur schnelle und kostengünstige Möglichkeiten für Wirkstoff-Screenings, sondern liefern auch relevante wissenschaftliche Erkenntnisse, ohne dass wir in dem Stadium auf Tierversuche zurückzugreifen müssen. Plattformen wie Organoide könnten die Lücke zwischen Tiermodellen und klinischen Studien überbrücken, indem sie wichtige Aspekte der menschlichen Physiologie und Krankheit besser modellieren. 

Die Möglichkeit, menschliche Gewebe in einer Petrischale zu kultivieren und ihre Entwicklung bis zur Bildung eines reifen Gewebes oder Organs zu verfolgen, verspricht eine Revolution in der biomedizinischen Forschung, die uns hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt. 

Bis dies Realität wird, sind wir schon auf dem richtigen Weg. Unsere iPSC-Plattform umfasst bereits mehr als 20 verschiedene Zelltypen, die Gehirn, Herz, Netzhaut, Niere, Leber und Immunzellen abdecken, wobei viele weitere Zelltypen derzeit entwickelt werden. Sie ist einzigartig und mit anderen Kerntechnologien von Evotec vernetzt was leistungsstarke humane Translationsmodelle schafft. 

Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, um generell tierversuchsfreie Methoden in Deutschland verstärkt zu etablieren? Wie sehen Sie die derzeitige finanzielle Förderung der Forschung zu tierversuchsfreien Methoden? Gibt es Ihrer Meinung nach bestimmte Gründe, weshalb diese im Vergleich zu Tierversuchen nur unzureichend gefördert werden? 

Dr. Henrik Renner: Versuche im Tiermodell werden auf absehbare Zeit ein wichtiger Teil der Entwicklung neuer Medikamente bleiben. Nach meiner Ansicht ist der einzige Weg, sie zu reduzieren ein besseres Verständnis von Krankheiten. Noch immer scheitern zu viele klinische Studien aufgrund mangelnder Wirksamkeit – weil sich präklinische Ergebnisse nicht auf den klinischen Kontext übertragen ließen. Eine bessere Abbildung von Krankheiten mit menschlichen Zellen ist eine Voraussetzung dafür diese Erfolgswahrscheinlichkeit zu verbessern. Auch auf der Seite der Sicherheit können humane Zellmodelle helfen unerwünschte Nebenwirkungen von Prüfsubstanzen zu erkennen. Alle Substanzen, die bereits in der Stufe vor dem Tiermodell aufgrund dieser Ergebnisse aussortiert werden, müssen gar nicht erst im Tiermodell evaluiert werden. Als Wissenschaftsunternehmen können wir hier eine aktive Rolle spielen, indem wir diese Methoden nicht nur entwickeln, sondern auch kontinuierlich verbessern und validieren, um ihre Zuverlässigkeit und Anwendbarkeit zu steigern.  

Was ist Ihr nächstes Ziel? Welche Projekte planen Sie als nächstes? 

Dr. Henrik Renner: Durch Evotecs Screening-Methoden, Alternativen wie humane iPSC-basierten Zellmodellen, unter anderem dreidimensionalen Organoide, sowie KI/ML und datengetriebene Forschung und Partnerschaftsmodelle möchten wir das Verständnis von Krankheiten verbessern und die Entwicklung neuer Therapien und Medikamente beschleunigen. Deshalb werden wir unsere iPSC-Plattform kontinuierlich in der Breite – also durch neue Zelltypen – als auch in der Tiefe – also durch komplexere Zellsysteme erweitern – um neue Forschungsansätze zu identifizieren, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führen.

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