Cover des Wegweisers Tierversuchsfreie Wissenschaft

Wegweiser Tierversuchsfreie WissenschaftInterview - Heike Behrensdorf-Nicol

Für unsere Publikation Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft haben wir mit Dr. Heike Behrensdorf-Nicol über vorgeschriebene Tests zur Sicherheitsprüfung von Tetanus-Impfstoffen gesprochen.  

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol ist Wissenschaftlerin am Paul-Ehrlich-Institut. Das PEI ist als Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und erforscht und bewertet biomedizinische Human-Arzneimittel und immunologische Tierarzneimittel und lässt diese zu. Es ist für die Genehmigung klinischer Prüfungen sowie die Erfassung und Bewertung möglicher Nebenwirkungen zuständig.

Frau Dr. Behrensdorf-Nicol, können Sie unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über Ihre Forschung geben?  

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol: Unsere Projektgruppe beschäftigt sich mit der Entwicklung von Alternativmethoden, die für die routinemäßige Chargenprüfung von Impfstoffen und biomedizinischen Arzneimitteln eingesetzt werden und dort bislang vorgeschriebene Tierversuche ersetzen können. Bei der Chargenprüfung geht es darum, dass jede neu hergestellte Produktionseinheit (Produktcharge) verschiedene, vom Europäischen Arzneibuch vorgeschriebene Tests durchlaufen muss, um die Sicherheit und Wirksamkeit des betreffenden Arzneimittels sicher zu stellen.   

In diesem Zusammenhang hat unsere Projektgruppe unter anderem eine In-vitro-Methode entwickelt, den sogenannten BINACLE-Assay, mit der sich aktives Tetanustoxin nachweisen lässt. BINACLE steht für "Binding and Cleavage".  

Zuverlässige Methoden für den Nachweis von aktivem Tetanustoxin sind wichtig für die Herstellung von sicheren Tetanus-Impfstoffen: Diese Impfstoffe enthalten inaktiviertes Tetanustoxin, das sogenannte Tetanustoxoid. Aktives Tetanustoxin darf in dem Toxoid auf keinen Fall enthalten sein. Daher muss jede hergestellte Charge daraufhin überprüft werden, dass kein aktives Toxin mehr enthalten und damit eine ausreichende Inaktivierung des Toxoids sichergestellt ist. Bisher muss diese Testung in einem im Europäischen Arzneibuch vorgeschriebenen Tierversuch an Meerschweinchen erfolgen. Die von uns entwickelte Methode kann potentiell dazu beitragen, diesen bisher für die Herstellung von Tetanusimpfstoffen vorgeschriebenen In-vivo-Test an Meerschweinchen zu ersetzen. 

Den BINACLE-Assay haben wir zudem in einem weiteren Projekt so abgewandelt, dass sich damit die Aktivität der pharmazeutisch relevanten Botulinumtoxine vom Serotyp A und B messen lässt. Diese Methode könnte einen Beitrag zur versuchstierfreien Wirksamkeitsbestimmung pharmazeutischer Botulinumtoxin-Präparate leisten, die beispielsweise zur Therapie bei Spastik nach Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma, dem sogenannten "Schiefhals" und chronischer Migräne zugelassen sind. Aber auch für Anwendungen im Bereich der ästhetischen Medizin.  

Auf welches Projekt blicken Sie mit besonders viel Begeisterung und Stolz?  

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol: Hier möchte ich ein Projekt erwähnen, das unser Projektteam vor einigen Jahren in Kooperation mit dem Europäischen Direktorat für die Qualität von Arzneimitteln (EDQM) durchgeführt hat:   

Bis zum Jahr 2020 schrieb das Europäische Arzneibuch vor, dass im Rahmen der Unbedenklichkeitstestung von Tetanustoxoid-Chargen zusätzlich zu dem oben beschriebenen Test auf "Abwesenheit von Toxin" noch ein weiterer Test an Meerschweinchen durchgeführt werden muss, nämlich der Test auf "Irreversibilität des Toxoids". Mit diesem Test sollte sichergestellt werden, dass das inaktivierte Toxoidmaterial seine Giftwirkung auch während einer längeren Lagerung nicht wiedererlangt. Der Test auf Irreversibilität war viele Jahre lang durch das Europäische Arzneibuch vorgeschrieben; eine umfassende Überprüfung der Aussagekraft dieses Tests war ursprünglich jedoch nicht erfolgt. Im Rahmen unseres Projekts haben wir daher die Relevanz dieses Tests überprüft. Dafür haben wir sowohl umfangreiche Recherchen als auch experimentelle Laboruntersuchungen durchgeführt und dabei mehrere Belege dafür gefunden, dass der Irreversibilitätstest in seiner bis dahin vorgeschriebenen Form keine aussagekräftigen Ergebnisse liefert und somit verzichtbar ist. 

Diese Ergebnisse wurden den Expertengruppen der Europäischen Arzneibuchkommission vorgestellt. Auf Grundlage unserer Erkenntnisse wurde schließlich der Irreversibilitätstests für Tetanustoxoide ersatzlos aus den Arzneibuch-Vorschriften für Human- und Veterinärimpfstoffe gestrichen. Seit Anfang 2021 können daher alle europäischen Impfstoffhersteller auf diesen Tierversuch, für den in der Vergangenheit zehn Meerschweinchen pro hergestellter Toxoidcharge eingesetzt werden mussten, verzichten.  

Dieses Projekt, das mit dem im Jahr 2020 ausgeschriebenen "Forschungspreis des Landes Rheinland-Pfalz zur Förderung der Erforschung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden für Tierversuche sowohl in der wissenschaftlichen Forschung als auch in der Lehre" ausgezeichnet wurde, hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Denn es hat bereits zu sichtbaren Auswirkungen im Hinblick darauf beigetragen, unnötige Tierversuche zu vermeiden. Im Gegensatz dazu muss sich bei den laufenden Projekten zur 3R-Methodenentwicklung erst noch erweisen, ob diese Methoden wirklich den "Sprung" in die routinemäßige Anwendung schaffen und somit einen konkreten Beitrag zum Ersatz von Tierversuchen leisten werden. 

Unser Wegweiser zum Download

Was hat Sie dazu motiviert, im Forschungsbereich der tierversuchsfreien Methoden tätig zu sein? 

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol: Ich mag Tiere sehr gerne und habe früher mehrere Haustiere gehabt. Es war für mich immer wichtig, dass es Tieren, die wir Menschen halten (egal, ob als Haus- oder als Nutztiere), möglichst gut geht, und dass man ihnen kein unnötiges Leid zufügt. Andererseits ist es mir natürlich auch sehr wichtig, dass gute und sichere Impfstoffe, Arzneimittel und Therapieansätze verfügbar sind. Mir war stets bewusst, dass hierfür Tierversuche bislang eine wichtige Rolle spielen und sich nicht so einfach abschaffen lassen.   

Gerade im Bereich der Impfstoffprüfung gibt es jedoch zahlreiche gesetzlich vorgeschriebene Tierversuche, die schon vor langer Zeit eingeführt wurden, als noch deutlich weniger Hintergrundwissen zu molekularen Zusammenhängen existierte als heute. Mit dem heutigen Wissen haben sich in vielen Fällen Möglichkeiten eröffnet, Tierversuche durch geeignete Alternativen zu ersetzen oder sie zumindest so zu verfeinern, dass die Belastung für die Versuchstiere deutlich geringer wird – ohne dass dabei die Qualität der zu testenden Arzneimittel gefährdet wird. Ich finde es sehr wichtig, dass auf diesem Feld Fortschritte erreicht werden. Als sich mir die Möglichkeit bot, selber im 3R-Bereich tätig zu werden und so aktiv zu einer Verringerung von Tierversuchen beizutragen, habe ich diese Chance daher gerne ergriffen.  

Wie tragen Ihre Forschungsergebnisse dazu bei, Tierversuche in der Wirksamkeits- und Sicherheitstestung von Impfstoffen und biomedizinischen Arzneimitteln zu reduzieren?  

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol: Nur dann, wenn eine neu entwickelte Alternativmethode schließlich in die routinemäßige Anwendung gelangt, kann sie wirklich einen nennenswerten Beitrag zum Ersatz von Tierversuchen leisten. Um dies zu erreichen, ist es wichtig, dass im Anschluss an die Entwicklungsphase die Eignung der neuen Methode für den Einsatz in der Routineanwendung umfassend geprüft wird. Zu diesem Zweck führen wir verschiedene Studien zur eingehenden Charakterisierung der in unserem Labor entwickelten In-vitro-Methoden durch. Für den Tetanus-BINACLE-Assay haben wir zum Beispiel in Zusammenarbeit mit EDQM eine umfangreiche Ringstudie initiiert, in der die neue Methode in zahlreichen internationalen Laboren parallel getestet wird.   

Solche Studien sind von entscheidender Bedeutung, um die Akzeptanz neu entwickelter Methoden zu fördern und den Sprung in die Routineanwendung zu unterstützen: Wenn die Ergebnisse dieser Studien sich als vielversprechend erweisen, dann können sie anschließend bei relevanten Gremien, z.B. den Expertengruppen der Europäischen Arzneibuchkommission, vorgestellt werden mit dem Ziel, eine Aufnahme der Methode in die entsprechenden Arzneibuchvorschriften zu erreichen.   

Sobald eine Neuerung, wie beispielsweise die Nutzung einer Alternativmethode anstelle eines Tierversuchs, in das Arzneibuch Eingang gefunden hat, muss diese Neuerung bei der Chargenprüfung der entsprechenden Impfstoffe und Arzneimittel europaweit umgesetzt werden. Sowohl von den Herstellern wie auch von den Arzneimittelbehörden.  

Welche Vorteile sehen Sie bei der Verwendung von human-basierten, tierversuchsfreien Methoden in der Forschung?   

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol: Generell sind Tierversuche mit einigen Nachteilen verbunden, wie beispielsweise einer oft hohen Variabilität der Ergebnisse sowie in vielen Fällen einer begrenzten Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen. Auch im Bereich der Forschungsanwendungen bietet daher der Einsatz von In-vitro-Methoden als Ersatz- oder Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen interessante Perspektiven und kann potentiell dazu beitragen, zuverlässigere Forschungsergebnisse zu generieren.  

Die Möglichkeit, Alternativmethoden einzusetzen, ist jedoch stark vom Einzelfall abhängig. Vor allem für die Erforschung komplexer Fragestellungen stehen in vielen Fällen noch keine zuverlässigen und gut erprobten In-vitro-Modelle zur Verfügung.  

Vor welchen Herausforderungen steht die Forschung im Bereich der Wirksamkeits- und Sicherheitstestung von Impfstoffen und biomedizinischen Arzneimitteln und welche Schritte unternehmen Sie und andere Wissenschaftler*innen, um diese anzugehen?  

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol: Um wirklich relevante Fortschritte bei der Reduzierung von Tierversuchen im Bereich der Chargenprüfung erreichen zu können, besteht die aus meiner Sicht wichtigste Herausforderung gar nicht auf dem Gebiet der Forschung, sondern auf der regulatorischen Ebene: Eine internationale Harmonisierung der gesetzlichen Vorgaben zur Chargenprüfung ist hierfür nämlich extrem wichtig.   

Viele Impfstoffhersteller vertreiben ihre Produkte global und nicht nur innerhalb Europas. Selbst wenn in Europa ein Tierversuch zur Impfstoffprüfung ersetzt oder abgeschafft wird, müssen die Herstellerfirmen diesen Versuch daher oft weiterhin durchführen, solange es noch Staaten gibt, die diesen Tierversuch fordern.   

Eine echte Reduktion der Tierzahlen kann erst dann erreicht werden, wenn sich alle Staaten auf eine alternative Lösung einigen. Um eine internationale Harmonisierung der Vorgaben für die Impfstoff-Chargenprüfung zu erreichen, wurden von verschiedenen internationalen Institutionen bereits vielfältige Initiativen gestartet. Diese zielen beispielsweise darauf ab, Vertreter und Vertreterinnen von Arzneimittelbehörden und anderen Interessengruppen aus allen Staaten zu Gesprächen an einen Tisch zu bringen. Ein anderer Ansatz ist es, sich darauf zu konzentrieren, veraltete und "3R-unfreundliche" Formulierungen in internationalen Vorgabedokumenten, z.B. Arzneibuch-Monographien oder technische Empfehlungen der WHO, durch neuere, an aktuelle Fortschritte auf dem 3R-Gebiet angepasste Texte zu ersetzen.   

In entsprechende Initiativen sind häufig auch Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedenen Abteilungen des Paul-Ehrlich-Instituts eingebunden.  

Welche aktuellen Entwicklungen im Bereich der tierversuchsfreien Methoden in der Wirksamkeits- und Sicherheitstestung von Impfstoffen und biomedizinischen Arzneimitteln halten Sie für besonders vielversprechend?  

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol: Die bisher angewandten Alternativmethoden zur Chargenprüfung von Impfstoffen basieren oft auf "altbewährten" Labormethoden wie z.B. ELISA, ein enzymgekoppeltes, immunologisches Nachweisverfahren für bestimmte Inhaltsstoffe, oder PCR, also Polymerase-Kettenreaktion, mit der sich z.B. bestimmte Viren nachweisen lassen.   

Es gibt jedoch auch verschiedene modernere In-vitro-Methoden, die eine sehr genaue Analyse von Stoffgemischen anhand der physikalischen Eigenschaften ihrer Inhaltsstoffe wie z.B. Masse oder Lichtstreueigenschaften ermöglichen und so potentiell zu einer noch aussagekräftigeren Charakterisierung von Impfstoff- und Therapeutika-Chargen beitragen können.   

Ich bin sehr gespannt darauf, inwieweit solche Methoden in Zukunft dazu beitragen können, den Einsatz von Tierversuchen in der Chargenprüfung weiter zu reduzieren.  

Was ist ihr nächstes Ziel? Welche Projekte planen Sie als nächstes?  

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol: Momentan stehen in unserer Projektgruppe verschiedene Aktivitäten im Vordergrund, bei denen es darum geht, die von uns entwickelten Alternativmethoden weiter zu charakterisieren sowie den Transfer dieser Methoden in die Routineanwendung zu fördern.   

Beispielsweise sollen die Ergebnisse unserer aktuellen Tetanustoxin-Ringstudie publiziert und insbesondere auch den Expertengruppen der Europäischen Arzneibuchkommission vorgestellt werden. Unser Ziel ist es, eine Arzneibuch-Änderung zu erreichen, die es erlaubt, die Alternativmethode anstelle des Meerschweinchen-Tests zu verwenden.  

Daneben sind unter anderem Informations- und Schulungsmaßnahmen vorgesehen, die es den zukünftigen Anwendern und Anwenderinnen erleichtern sollen, die neuen Methoden in ihren Laboren zu implementieren.  

Darüber hinaus halten wir generell die Augen offen, an welchen Stellen im Bereich der Chargenprüfung es noch weitere Tierversuche gibt, bei denen wir zu einem Ersatz durch Alternativmethoden beitragen können. 

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