Cover des Wegweisers Tierversuchsfreie Wissenschaft

Wegweiser Tierversuchsfreie WissenschaftInterview - Eva Ingeborg Reihs

Für unsere Publikation Wegweiser Tierversuchsfreie Wissenschaft haben wir mit Eva Ingeborg Reihs, MSc. über Organ-on-a-Chip-Modelle zur Erforschung menschlicher Gewebe und Organe gesprochen.  

Eva Ingeborg Reihs, MSc.

Eva Ingeborg Reihs, MSc., promoviert an der Medizinischen Universität Wien und ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Karl Chiari Lab for Orthopaedic Biology.  Dort forscht sie an Organ-on-a-Chip-Modellen. Die Arbeitsgruppe, in der sie ihre Promotion bearbeitet, beschäftigt sich vornehmlich mit der Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch auf Basis von aus Stammzellen differenzierten Zellen.

Frau Reihs, können Sie unseren Leser*innen einen kurzen Überblick über Ihre Forschung geben? 

Eva Ingeborg Reihs: Kurz umrissen, ich forsche im Bereich der Entwicklung und Verbesserung von tierfreien In-vitro-Modellen, insbesondere an Organ-on-a-Chip-Systemen. Als Tissue Engineer liegt mein Fokus auf der Beforschung und Nachbildung menschlicher Gewebesysteme. für die Grundlagen- und Angewandte Forschung. Ein besonderes Augenmerk lege ich derzeit auf die Entwicklung und Anwendung eines tierfreien Knee Joint-on-a-Chip-Modells, das die komplexen physiologischen Bedingungen des menschlichen Kniegelenks nachbildet. Mit Hilfe von menschlichen Zellen beforsche ich die Interaktion einzelner Gewebetypen in der Kniearthrose. Wir brauchen ganz einfach mehr grundlegendes Wissen über das Zusammenspiel dieser vielen einzelnen Komponenten im Gelenk während der Krankheit und ihrer Entwicklung. Worauf ich hinarbeite, ist die Verwendung des Biochips zur Effektuntersuchung diverser Wirkstoffe auf den in diesem Model simulierten Gelenkverschleiß. 

Was hat Sie dazu motiviert, im Forschungsbereich der tierversuchsfreien Methoden tätig zu sein? 

Eva Ingeborg Reihs: Während meines Masters im Tissue Engineering wurde ich erstmals mit den ethischen und wissenschaftlichen Herausforderungen von Tierversuchen konfrontiert. Ganz schnell war mir klar, dass ich in meiner Forschung Tierversuche zukünftig vermeiden will. Stattdessen konzentriere ich mich derzeit darauf, In-vitro-Modelle zu verbessern, um diese für die humane Forschung anwendbar zu machen. Die Möglichkeit, die Wissenschaft im Bereich der humanen Biomedizin voranzutreiben und gleichzeitig das Leiden von Tieren zu vermeiden, ist meine größte Motivation. 

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Auf welches Projekt blicken Sie mit besonders viel Begeisterung und Stolz? 

Eva Ingeborg Reihs: Ein besonderes wissenschaftliches Schmankerl in meiner bisherigen Karriere war die Beteiligung an der Entwicklung eines tierfreien Synoviums-on-a-Chip, was auch der Startpunkt meiner Liebe gegenüber den 3Rs war. Und dabei ganz besonders einem, nämlich ‚to replace‘. Dieses Projekt (Herbert-Stiller Preis 2019; Dr. Mario Rothbauer), ausgezeichnet und prämiert von "Ärzte gegen Tierversuche", hat bewiesen, dass es möglich ist, komplexe humane Gewebemodelle ohne tierische Bestandteile zu entwickeln. Es hat mir die Augen dafür geöffnet dafür, dass wir als Wissenschaftler verpflichtet sind, technologische Fortschritte zu nutzen und ethisch vertretbare Forschung zu betreiben. 

Welche aktuellen Entwicklungen im Bereich des Bioengineerings beziehungsweise der Organ-On-A-Chip-Modelle halten Sie für besonders vielversprechend? 

Eva Ingeborg Reihs: Die jüngsten Fortschritte im Bereich der Mikrofluidik und der 3D-Bioprinting-Technologien sind besonders interessant. Diese Technologien ermöglichen uns, menschliches Gewebe viel präziser nachzubauen und verschiedene Zelltypen in ein Modell zu integrieren. Zum Beispiel hat das "Liver-on-a-Chip"-System, das die komplexen Funktionen und Strukturen der Leber nachahmt, bereits geholfen, um die Toxizität von Medikamenten und Leberkrankheiten zu untersuchen. Auch das "Lung-on-a-Chip"-System ist bemerkenswert. Es simuliert die Gaswechselprozesse der menschlichen Lunge und ist für die Untersuchung von Lungenkrankheiten und Medikamententests geeignet. 

Darüber hinaus ermöglichen personalisierte Organ-on-a-Chip-Systeme, für deren Entwicklung patientenspezifischen Zellen verwendet werden, neue Möglichkeiten für die individualisierte Medizin. Mit diesen Systemen können wir Modelle erstellen, die der menschlichen Physiologie schon sehr ähnlich sind und die gleichzeitig auf den spezifischen biologischen Eigenschaften eines einzelnen Patienten basieren. Das erzeugt neue Möglichkeiten für die personalisierte Behandlung und präzisere Vorhersagen von Therapieergebnissen. 

Die Integration fortschrittlicher Sensoren und Biosensoren in diese Systeme bietet ebenfalls erhebliche Vorteile, da sie die Echtzeitüberwachung biologischer Prozesse stark vereinfachen. Generell haben Organ-on-a-Chip-Modelle das Potential die medizinische Forschung zu verbessern, Tierversuche zu reduzieren und die Entwicklung neuer Therapien zu beschleunigen. 

Vor welchen großen Herausforderungen steht die Forschung im Bereich der Organ-On-A-Chip-Modelle und wie gehen Wissenschaftler*innen diese an?  

Eva Ingeborg Reihs: Eine der größten Herausforderungen ist, die Komplexität der menschlichen Physiologie genau nachzubilden. Dazu gehören nicht nur die richtigen Zelltypen, sondern auch die Rekapitulation diverser Bedingungen, die wir in so einer dreidimensionalen Mikroumgebung vorfinden, wie Nährstoff- und Sauerstoffzufuhr, mechanische Belastung, Zell-Matrix und Zell-Zell-Interaktionen.  

Im Allgemeinen ist die wissenschaftliche Community gut vernetzt, also sind etwaige derzeitige Stolpersteine durch interdisziplinäre Zusammenarbeit und den Einsatz fortschrittlicher Technologien wie der Mikrofluidik und dem 3D-Bioprinting überwindbar.  

Können Sie Ihre Forschungsergebnisse nutzen, um die Entwicklung von Medikamenten und Therapien zu beschleunigen, und wenn ja, wie? 

Eva Ingeborg Reihs: Ja, Organ-on-a-Chip-Modelle haben schlichtweg das Potenzial, die Entwicklung von Medikamenten und Therapien erheblich zu beschleunigen. Sie ermöglichen es, Reaktionen in einer kontrollierten Umgebung zu beobachten die der physiologischen Antwort sehr nahekommt. Mit so einem auf humane Physiologie getrimmtes Modell können wir zukünftig die Vorhersagbarkeit der Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten verbessern. Man muss aber auch ehrlich sein und erwähnen, dass wir als Wissenschaftliche Community noch nicht an dem Punkt angekommen sind, an dem wir behaupten können „Das ist das Modell für die Krankheit XY. Testen wir, wie gut unsere neue Therapie wirkt“. Aber das sollte unser innerer Antrieb sein, meiner ist es, dass wir zukünftig durch solche Alternativmethoden/Modelle die Anzahl der Tierversuche reduzieren oder komplett ersetzen können und die Translation von Forschungsergebnissen für die klinische Anwendung beschleunigt wird. 

Welche Vorteile hat es, komplett auf tierische Bestandteile in der Forschung zu verzichten?  

Eva Ingeborg Reihs: Da gibt es so einige allgemeine und für mich persönlich relevante Aspekte tierfrei zu forschen, vor allem wenn es humane Krankheitsaspekte betrifft. Neben Ethik und Tierschutz, also der Vermeidung von Leiden und dem Tod von Tieren, eben auch die wissenschaftliche Relevanz.  

Wir als Wissenschaftler müssen uns gut überlegen, ob wir tierische Komponenten für die Erforschung humaner Krankheitsaspekte wirklich einsetzen müssen, wenn es einerseits bereits Alternativen gibt, die die Entwicklung humanrelevanter Modelle zulassen, die die menschliche Physiologie nachbilden können. 

Ob die Verwendung von humanen Alternativprodukten sogar Einfluss auf die Relevanz und Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf den Menschen hat, kann meiner Meinung nach noch nicht als Argument gelten und sollte unbedingt ein wichtiger Aspekt für jeden tierfreien bzw. human-fokussierten Forschungsansatz sein, der den Daseinszweck gewissermaßen beweist. 

Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, um generell tierversuchsfreie Methoden in Deutschland beziehungsweise im DACH-Raum verstärkt zu etablieren? Welche Rolle nimmt dabei die Gesetzgebung ein? 

Eva Ingeborg Reihs: Es bedarf einer stärkeren finanziellen Unterstützung und noch gezielterer Förderung von Alternativmethoden. Die Gesetzgebung spielt eine entscheidende Rolle, indem sie strengere Vorschriften für Tierversuche einführt und gleichzeitig Anreize für die Entwicklung und Nutzung tierversuchsfreier Methoden schafft. Auch die Anerkennung und Zulassung durch regulatorische Behörden wie die FDA und EMA sind entscheidend, um den Einsatz solcher Methoden in der Forschung zu fördern. 

Bevor wir jedoch in Dimensionen denken, die jeden Tierversuch/Tiermodell mit Hilfe einer alternativen Methode bzw. Modell ersetzen soll, kann jeder Lab Scientist schon viel bewegen. Hier geht es um den Ersatz von diversen Materialien, die aus einer tierischen Produktionspipeline stammen. Und das sind so einige Produkte tierstämmiger Herkunft, die standardisiert im Lab-Alltag zum Einsatz kommen. Ich behaupte, hier anzusetzen und einen Schwenk Richtung tierfreie Alternativprodukte finanziell zu fördern, ist ein Anfang und sensibilisiert junge Wissenschaftler für diese Thematik. 

Wie sehen Sie die derzeitige finanzielle Förderung der Forschung zu Alternativmethoden? Gibt es Ihrer Meinung nach bestimmten Gründen, weshalb diese im Vergleich zu Tierversuchen nur unzureichend gefördert werden? 

Eva Ingeborg Reihs: Einfach gesagt, es könnte schon ein bissal‘ mehr sein. Vor allem wenn es um langfristige Veränderungen gehen soll, die die Entwicklung und Etablierung neuer Methoden betrifft. Ein Switch von traditionellen Ansätzen zu neuen Sichtweisen muss jetzt gar nicht ein radikales Umdenken erfordern. Offenheit für Veränderungen und der Wille ist für mich persönlich Teil der Jobbeschreibung. 

Ich möchte nicht die gern geförderten, etablierten Tierversuchsmodelle abwerten, eher aktiv auf die Tatsache hinweisen, dass einige Alternativmethoden wissenschaftlich vielversprechend sind. Auf lange Sicht bedarf es natürlich eines Paradigmenwechsels, um mehr Forschungsgelder gezielt in innovative, tierfreie Technologien zu lenken, natürlich unterstützt mit einem politischen Zutun. Nichtsdestotrotz empfinde ich die Tatsache, dass im Bereich der Toxizitätsstudien mittlerweile gerne auf validierte, also zugelassene Alternativmethoden zurückgegriffen wird, als einen Erfolg für die gesamte biomedizinische Wissenschaft! 

Was ist Ihr nächstes Ziel? Welche Projekte planen Sie als nächstes? 

Eva Ingeborg Reihs: Eines meiner nächsten Ziele ist es, die Anwendbarkeit des Kniegelenk-Biochips auszuloten. Das bedeutet z. B., welche Krankheitssymptomatik, die wir im Patienten sehen, kann ich in diesem Modell reproduzieren? Können mit Hilfe der Wirkstoffaustestung auf der Biochip-Plattform Vorhersagen getroffen werden bezüglich eines Therapieerfolgs und der Wirksamkeit neuer Therapieansätze? Da steckt noch viel Arbeit drinnen um den Biochip fit-to-work zu machen und ich freue mich drauf‘! Denn je relevanter das Modell ist, desto besser ist es für Grundlagenforschung und präklinische Studien geeignet und hilft bei der Vermeidung von Tierversuchen. Da nehm‘ ich doch gern ein bisschen persönliches Leid in Kauf für ein bisschen mehr Tierwohl! 

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